
Die Mär von den plötzlich gültigen Grenzwerten
Die Stuttgarter Zeitung berichtete am 08. August:
Luft: Schon 1990 sprach der Umweltminister von Stickoxidalarm und Verkehrsbeschränkungen. Von Thomas Durchdenwald
In der Debatte um Luftbelastung und Diesel-Fahrverbote erwecken viele Politiker, assistiert von der Automobilbranche, in diesen Tagen gerne den Eindruck, als handle es sich um eine Problematik, die erst in den vergangenen Jahren aufgetaucht sei. Dass dem nicht so ist, dafür hat
unser Leser Stefan Frey, der im Vorstand des baden-württembergischen Landesnaturschutzverbands sitzt, jetzt ein besonderes Fundstück in einen privaten Archiv entdeckt: eine Regierungserklärung des damaligen baden-württembergischen Umweltministers Erwin Vetter, gehalten am 9. Mai 1990 im Landtag. Vor 27 Jahren sprach Vetter davon, dass in Baden-Württemberg die „fortschrittlichsten Luftreinhaltepläne Deutschlands“ erarbeitet würden. Und auch wenn sie kritisiert werden: Sie sind einmalig deswegen, weil das erste Mal im Verkehrsbereich
Maßnahmen konkret erwogen werden, sagte der CDU-Politiker im Parlament.
Außerdem sei auf Initiative Baden-Württembergs über die Smogverordnung hinaus bundesgesetzlich geregelt worden, dass bei einer erhöhten Luftbelastung örtliche verkehrsbeschränkende Maßnahmen angeordnet werden können – das ist der sogenannte Stickoxidalarm, so steht es
wörtlich auf Seite 20 der in einer Broschüre gebundenen Regierungserklärung. Der mittlerweile 80-jährige Vetter war anschließend von 1992 bis 1998 zuerst Staats- und dann Sozialminister unter Ministerpräsident Erwin Teufel, danach zehn Jahre lang Leiter der Führungsakademie des
Landes .und bis 2006 auch Landtagsabgeordneter. Für den Verwaltungsjuristen Stefan Frey beweist die Regierungserklärung aus dem vergangenen Jahrhundert, dass es damals wenigstens auf dem Papier und in Worten noch Mut gab und das Primat der Politik galt. Im Jahr 1990, zu Zeiten von Erwin Vetter, dem baden-württembergischen Grandseigneur der Umweltpolitik, sei man bei den Themen Luftreinhaltung.
und Verkehrsbeschränkung fast schon weiter gewesen als heute, meint der Naturschützer. Auch der frühere Stadtklimatologe Jürgen
Baumüller wendet sich gegen den Glauben, der Grenzwert für Stickstoffdioxid sei quasi über Nacht hereingebrochen. Schon im Jahr 2002 sei er basierend auf einer EU-Richtlinie aus 1999 beschlossen worden. „Dabei war die Vorgabe, dass von 2003 an die Luftwerte so reduziert werden sollen, dass 2010 der Grenzwert eingehalten wird“, erinnert sich Baumüller, der bis 2008 Leiter der Abteilung Stadtklimatologie im Stuttgarter Umweltamt war. „Man hatte also lange Zeit oder besser gesagt Vorlauf, um das Ziel zu erreichen.“ Aber der 2005 erlassene Luftreinhalteplan
sei ungeeignet gewesen, um die von 2010 an geltenden Grenzwerte zu erreichen. Dies setze sich bis heute fort, wobei Baumüller vor kurzem betonte, dass die geplanten, aber nun wieder auf der Kippe stehenden Diesel-Fahrverbote unterhalb der Euro-6-Norm nur an Feinstaubtagen aus seiner Sicht unzureichend seien, um die Stickstoffdioxid-Grenzwerte einzuhalten. Dafür müssten sie das ganze Jahr gelten. Für den Stuttgarter Klimaexperten ist es angesichts dieser langen Vorgeschichte ungeheuerlich, dass die Bürger den Staat verklagen müssen, damit er für die Einhaltung der Grenzwerte sorgt, die er selbst erlassen hat. Das sei der „eigentliche Gipfel in Zeiten des Dieselgipfels“, findet Jürgen
Baumüller.‘